BFH: Steuerfreistellung des niederländischen Arbeitslohns im Ansässigkeitsstaat Deutschland auch bei Anwendung der niederländischen 30 %-Regelung
Der für eine Tätigkeit im Königreich der Niederlande gezahlte Arbeitslohn eines in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Arbeitnehmers ist auch insoweit nach Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 unter Anwendung des Progressionsvorbehalts von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen, als der Arbeitnehmer den Arbeitslohn aufgrund der sogenannten 30 %‑Regelung steuerfrei erhalten hat.
EStG § 1 Abs. 1 Satz 1, § 19 Abs. 1
DBA NLD 2012/2016 Art. 14 Abs. 1, Art. 22 Abs. 1 Buchst. a
BFH-Urteil vom 10.4.2025, VI R 29/22 (veröffentlicht am 3.7.2025)
Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 25.10.2022, 13 K 2867/20 E = SIS 22 21 82
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im Streitjahr (2019) ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) wohnhaft und bei einem Arbeitgeber in dem Königreich der Niederlande (Niederlande) beschäftigt. Er übte seine nichtselbständige Arbeit an 157 Tagen in den Niederlanden und an 80 Tagen in Deutschland aus. 30 % seines Arbeitslohns wurden dem Kläger von seinem niederländischen Arbeitgeber steuerfrei ausgezahlt.
Dies erfolgte vor dem Hintergrund, dass niederländische Arbeitgeber nach Art. 31a Nr. 2 Buchst. e des niederländischen Lohnsteuergesetzes (Wet op den loonbelasting 1964) i.V.m. Art. 10ea der niederländischen Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (Uitvoeringsbesluit loonbelasting 1965) i.V.m. Paragraf 17.4 des niederländischen Lohnsteuerhandbuchs 2019 (Handboek Loonheffingen 2019) Arbeitnehmern, die eine Tätigkeit bei einem niederländischen Arbeitgeber aufnehmen und zwecks Ausübung ihrer Tätigkeit in die Niederlande umziehen oder ‑‑wie vorliegend‑‑ täglich vom Ausland in die Niederlande reisen, unter bestimmten weiteren ‑‑vorliegend nicht streitigen‑‑ Voraussetzungen durch den Aufenthalt in den Niederlanden entstehende Mehrkosten (sogenannte extraterritoriale Kosten) steuerfrei erstatten können.
Zu diesen sogenannten extraterritorialen Kosten zählen gemäß Paragraf 17.4.3 des Handboek Loonheffingen 2019 unter anderem Mehrkosten aufgrund eines höheren Preisniveaus in den Niederlanden, Kosten für eine Erkundungsreise durch die Niederlande (zum Beispiel zur Wohnungs- oder Schulsuche), Verwaltungskosten durch Ummeldungen oder die Beantragung eines Visums oder einer Aufenthaltsgenehmigung sowie Kosten für Sprachkurse, für eine doppelte Haushaltsführung oder für Familienheimfahrten.
Dabei räumt das niederländische Lohnsteuerrecht dem Arbeitgeber im Hinblick auf die steuerfreie Erstattung dieser Kosten ein Wahlrecht ein. Dieser kann dem Arbeitnehmer entweder die tatsächlich entstandenen und nachgewiesenen extraterritorialen Kosten erstatten oder dem Arbeitnehmer (ohne Nachweis der tatsächlich entstandenen Kosten) nach positiver Verbescheidung durch die niederländischen Finanzbehörden pauschal 30 % des (niederländischen) Arbeitslohns (inklusive etwaiger steuerfrei ausgezahlter anderweitiger Erstattungen) steuerfrei auszahlen (sogenannte 30 %‑Regelung).
Der Arbeitgeber des Klägers nahm für diesen im Streitjahr die 30 %‑Regelung in Anspruch, nachdem ihm deren Anwendung antragsgemäß mit Bescheiden vom 01.04.2011 und 22.12.2016 vom niederländischen Finanzamt … zunächst für fünf Jahre und sodann für weitere 60 Monate bewilligt worden war.
Demgemäß wies die niederländische Lohnsteuerbescheinigung des Klägers (Jaaropgaaf) für das Streitjahr ‑‑wie lohnsteuerrechtlich vorgesehen‑‑ als Arbeitslohn lediglich das um 30 % bereinigte Jahresgehalt aus. Der Betrag, der unter die 30 %‑Regelung fiel (… €), ist in der Lohnsteuerbescheinigung gesondert (nachrichtlich) ausgewiesen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr abweichend von den Angaben des Klägers in dessen Einkommensteuererklärung fest. Er erhöhte die in Deutschland steuerbaren Einkünfte des Klägers um den auf die Tätigkeitstage in den Niederlanden entfallenden Teil (157/237 Arbeitstage) des nach der niederländischen 30 %‑Regelung steuerfrei verbliebenen Arbeitslohns. Dieser von den Niederlanden von der Besteuerung freigestellte Teil des Arbeitslohns sei ‑‑weil dort tatsächlich nicht besteuert‑‑ dem in Deutschland zu versteuernden Arbeitslohn nach § 50d Abs. 9 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hinzuzurechnen. Die bisherige Einbeziehung dieses steuerfreien Teils des Arbeitslohns in den Progressionsvorbehalt nach § 32b EStG sei entsprechend rückgängig zu machen.
Die hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 92 veröffentlichten Gründen ab.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Er beantragt,
das Urteil des FG Düsseldorf vom 25.10.2022 ‑ 13 K 2867/20 E sowie die Einspruchsentscheidung vom 26.10.2020 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2019 vom 25.08.2020 dahingehend zu ändern, dass bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage in Deutschland steuerpflichtige Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von … € berücksichtigt werden und dem Progressionsvorbehalt ein Betrag von … € unterworfen wird.
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Rechtsstreit beigetreten. Einen Antrag hat es nicht gestellt.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der in den Niederlanden nach Anwendung der 30 %‑Regelung von der Besteuerung freigestellte Teil des Arbeitslohns des Klägers bei der Ermittlung der deutschen Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen ist.
1. Der Kläger ist im Streitjahr aufgrund seines inländischen Wohnsitzes in Deutschland mit seinem Welteinkommen einschließlich der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 Abs. 1 EStG) aus den Niederlanden unbeschränkt steuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 Satz 1 EStG).
2. Nach Art. 14 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen vom 12.04.2012 (BGBl II 2012, 1415, BStBl I 2016, 48) i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 11.01.2016 (BGBl II 2016, 868, BStBl I 2017, 70) ‑‑DBA-Niederlande 2012/2016‑‑ können Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus unselbständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat (vorliegend Deutschland) besteuert werden, es sei denn, die Arbeit wird im anderen Vertragsstaat ausgeübt (vorliegend Niederlande). Wird die Arbeit dort ausgeübt, so können die dafür bezogenen Vergütungen auch im anderen Staat (vorliegend in den Niederlanden) besteuert werden.
Danach steht das Besteuerungsrecht betreffend die Einkünfte des Klägers aus unselbständiger Arbeit nach Art. 14 Abs. 1 DBA-Niederlande 2012/2016 neben Deutschland auch den Niederlanden insoweit zu, als der Kläger seine Tätigkeit dort (im Streitfall an 157 von 237 Arbeitstagen) ausgeübt hat. Dies steht zwischen den Beteiligten nicht in Streit, so dass der Senat diesbezüglich von weiteren Ausführungen absieht.
3. Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung werden nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 bei einer in Deutschland ansässigen Person die niederländischen Einkünfte von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer ausgenommen und insoweit lediglich in den Progressionsvorbehalt gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. d DBA-Niederlande 2012/2016 i.V.m. § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG einbezogen. Dies allerdings nur dann, wenn diese Einkünfte tatsächlich in den Niederlanden besteuert werden und ‑‑wie vorliegend‑‑ nicht unter Art. 22 Abs. 1 Buchst. b DBA-Niederlande 2012/2016 fallen.
a) Eine tatsächliche Besteuerung im anderen Vertragsstaat liegt vor, wenn dieser die betreffenden Einkünfte in die steuerliche Bemessungsgrundlage einbezieht. Eine Steuer(zahl)last muss hierdurch nicht entstehen. Deshalb liegt eine tatsächliche Besteuerung auch vor, soweit sich die Einkünfte steuerlich nicht auswirken, weil zum Beispiel Freibeträge gewährt oder Verluste verrechnet werden (s. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 12.04.2023 ‑ I R 44/22 (I R 49/19, I R 17/16), BFHE 280, 213, BStBl II 2023, 974, Rz 20; BMF-Schreiben vom 20.06.2013, BStBl I 2013, 980, Tz. 2.3 a). Entsprechendes gilt, wenn ausländische Vorschriften zur Einkünfteermittlung (s. BMF-Schreiben vom 20.06.2013, BStBl I 2013, 980, Tz. 2.3 a) oder die steuerfreie Erstattung von Aufwendungen wie eine partielle Nichtbesteuerung wirken.
b) Hingegen fehlt es an einer tatsächlichen Besteuerung im Sinne des Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 unter anderem, falls Einkünfte in den Niederlanden aufgrund einer sachlichen oder persönlichen Steuerbefreiung nicht besteuert werden oder dort eine Besteuerung nicht durchgeführt wurde (BTDrucks 17/10752, S. 59). Von einer tatsächlichen Nichtbesteuerung im Anwendungsbereich eines Doppelbesteuerungsabkommens ist grundsätzlich auszugehen, soweit der Staat, dem das Besteuerungsrecht nach dem Doppelbesteuerungsabkommen (auch) zugewiesen ist (hier die Niederlande), nach nationalem Recht Einkünfte nicht besteuern kann, insbesondere weil diese nicht steuerbar beziehungsweise sachlich steuerbefreit sind oder der Steuerpflichtige persönlich steuerbefreit ist, oder aus anderen Gründen eine tatsächliche Besteuerung unterbleibt, beispielsweise aufgrund Verzichts durch Erlass der Steuer oder durch Unkenntnis der durch den Steuerpflichtigen erzielten Einkünfte (s. BMF-Schreiben vom 20.06.2013, BStBl I 2013, 980, Tz. 2.3 b).
4. Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben. Denn nach dem vom FG für den BFH gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindend festgestellten niederländischen Recht (s. dazu BFH-Urteil vom 07.12.2017 ‑ IV R 23/14, BFHE 260, 312, BStBl II 2018, 444, Rz 33) ist der niederländische Arbeitslohn des Klägers, soweit den Niederlanden das Besteuerungsrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz und Satz 2 DBA-Niederlande 2012/2016 zustand, im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 in den Niederlanden in vollem Umfang tatsächlich besteuert worden. Dies gilt auch, soweit der Kläger seinen niederländischen Arbeitslohn aufgrund der 30 %‑Regelung steuerfrei erhalten hat.
a) Die 30 %‑Regelung gründet auf der Annahme, dass Arbeitnehmern, die eine Tätigkeit bei einem niederländischen Arbeitgeber aufnehmen und zwecks Ausübung ihrer Tätigkeit in die Niederlande umziehen oder ‑‑wie im Streitfall‑‑ täglich vom Ausland in die Niederlande reisen, zusätzliche Kosten entstehen, weil die Lebenshaltungskosten in den Niederlanden höher als im Heimatland sind. Soweit es sich hierbei um sogenannte extraterritoriale Kosten handelt, kann der Arbeitgeber diese Mehrkosten dem Arbeitnehmer entweder gegen Einzelnachweis steuerfrei erstatten oder ‑‑wie im Streitfall‑‑ stattdessen ohne Nachweis pauschal abgelten und 30 % des Arbeitslohns steuerfrei auszahlen.
b) Damit handelt es sich bei der 30 %‑Regelung, anders als das FG meint, nicht um eine persönliche oder sachliche Steuerbefreiung, die eine tatsächliche Nichtbesteuerung bewirkt, sondern ‑‑nach dem insoweit maßgeblichen und vom FG auch für den BFH bindend festgestellten niederländischen Recht‑‑ um die pauschalierte Erstattung von steuererheblichen Aufwendungen des Steuerpflichtigen. Von einer Nichtbesteuerung im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 kann aufgrund einer solchen aufwandsentlastenden Steuerfreistellung wie bei Freibeträgen und steuermindernden Vorschriften im Rahmen der Einkommensermittlung daher keine Rede sein. Es macht auch keinen Unterschied, ob im Rahmen der Einkommensermittlung die steuerliche Bemessungsgrundlage um steuererhebliche Aufwendungen des Arbeitnehmers zu vermindern oder um steuerfreie Arbeitgebererstattungen nicht zu erhöhen ist. Denn die dahingehende Unterscheidung ist lediglich von rechtstechnischer Natur.
c) Dass die extraterritorialen Kosten im Rahmen der 30 %‑Regelung nicht in tatsächlicher und nachgewiesener Höhe, sondern pauschal steuerfrei gestellt werden, macht in der Sache ebenfalls keinen Unterschied und führt deshalb zu keiner tatsächlichen Nichtbesteuerung im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016. Denn auch insoweit bleibt die Steuerfreistellung ‑‑wenn auch rechtstechnisch anders als die nachweisbezogene Erstattung von tatsächlich entstandenen Kosten ausgestaltet‑‑ aufwandsbezogen.
d) Schließlich ist für die Frage, ob die 30 %‑Regelung eine Nichtbesteuerung im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. a DBA-Niederlande 2012/2016 bewirkt, nicht maßgeblich, ob das deutsche Steuerrecht einen solchen oder vergleichbaren "Abzugs- oder Erstattungstatbestand" (von berufsbezogenen Lebenshaltungskosten) kennt oder ob im Vergleich mit inländischen Steuerregelungen (z.B. dem Arbeitnehmer-Pauschbetrag nach § 9a Satz 1 Nr. 1a EStG) die 30 %‑Regelung den vermuteten Aufwand vermeintlich "überkompensiert". Ebenso wenig ist hierfür von Bedeutung, nach welchen rechtstechnischen Vorgaben die aufwandsbezogene Steuerfreistellung erfolgt. Insbesondere kommt es insoweit nicht darauf an, ob steuererheblicher Aufwand und steuerfreie Erstattung bereits als Vorwegabzug im Lohnsteuerabzugsverfahren oder erst nachträglich im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung von der ausländischen Steuerrechtsordnung in den Blick genommen und verfahrensrechtlich abgebildet werden. Alles andere wäre ein "Eingriff" in die Steuerhoheit des anderen Vertragsstaats. Wenn das Besteuerungsrecht (auch) diesem ‑‑wie hier den Niederlanden nach Art. 14 Abs. 1 DBA-Niederlande 2012/2016‑‑ zugewiesen ist, ist es dessen Angelegenheit, wie er den Steuerzugriff im Einzelnen ausgestaltet.
5. Der in den Niederlanden nach Anwendung der 30 %‑Regelung von der Besteuerung freigestellte Teil des Arbeitslohns ist bei der Ermittlung der deutschen Bemessungsgrundlage daher nicht, sondern, wie auch vom Kläger beantragt, nur beim Progressionsvorbehalt zu berücksichtigen. Die Höhe des Betrags steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit, so dass der Klage in dem beantragten Umfang stattzugeben ist.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.