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BFH: Wegzugsbesteuerung bei einem Wegzug in die Schweiz und Freizügigkeit

Auch wenn nach unionsrechtlichen Vorgaben in Verbindung mit dem soge­nannten Freizügigkeitsabkommen der Europäischen Union und der Schweiz bei einem im Jahr 2011 erfolgten Wegzug in die Schweiz die im Wegzugszeitpunkt entstehende nationale Steuer auf den Vermögenszuwachs (Wegzugsteuer) dauerhaft und zinslos zu stunden ist (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Wächtler vom 26.02.2019 ‑ C‑581/17, EU:C:2019:138, Internationales Steuerrecht 2019, 260 = SIS 19 01 95), hindert dies die Festsetzung der Steuer nicht.

Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21.06.1999 (BGBl II 2001, 811) ‑‑Freizügigkeitsabkommen‑‑, in Kraft getreten am 01.06.2002 (BGBl II 2002, 1692)
AStG § 6 Abs. 1, 4, 5

BFH-Urteil vom 6.9.2023, I R 35/20 (veröffentlicht am 11.1.2024)

Vorinstanz: FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, vom 31.8.2020, 2 K 835/19 = SIS 20 17 90

I. Im Streit steht, ob in Folge des Umzugs des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) von der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) in die Schweiz die sogenannte Wegzugsteuer gemäß § 6 des Außensteuergesetzes in der für das Jahr 2011 (Streitjahr) geltenden Fassung (AStG) festgesetzt werden darf.

Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und seit 2008 Geschäftsführer der … GmbH (GmbH) mit Sitz in der Schweiz. An die­ser GmbH ist er seit Gründung der Gesellschaft (im Juli 2007) mit einer Stammkapitaleinlage von … CHF (damit zu 50 %) beteiligt. Im Streitjahr war der Kläger zwar verheiratet, beantragte aber eine ge­trennte Veranlagung zur Einkommensteuer.

Im März 2011 verzog er in die Schweiz, wo er seitdem wohnhaft ist. Der Be­klagte und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) informierte den Kläger, dass es in Folge des Umzugs einen steuerpflichtigen fiktiven Gewinn gemäß § 6 Abs. 1 AStG in Höhe von … € ansetzen werde. Der Kläger wies darauf hin, dass eine Besteuerung nicht mit dem Abkommen zwischen der Europäischen Ge­meinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eid­genossenschaft andererseits über die Freizügigkeit vom 21.06.1999 (BGBl II 2001, 811) ‑‑Freizügigkeitsabkommen (FZA)‑‑, in Kraft getreten am 01.06.2002 (BGBl II 2002, 1692), in Einklang stehe. Die Besteuerung nicht re­alisierter stiller Reserven sei geeignet, eine Person vom Wegzug in die Schweiz abzuhalten. Deutschland habe es versäumt, für den Bereich des FZA eine der Stundungsregelung des § 6 Abs. 5 AStG entsprechende Regelung vorzusehen. Daher finde die Wegzugsbesteuerung keine Anwendung.

Mit Bescheid vom 18.11.2014 setzte das FA gegenüber dem Kläger die Ein­kommensteuer für 2011 in Höhe von … € fest. Bei den Besteuerungs­grundlagen berücksichtigte es unter anderem Einkünfte aus Gewerbebetrieb im Sinne des § 6 AStG i.V.m. § 17 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (EStG) in Höhe von … €. Mit seinem dagegen erhobenen Einspruch machte der Kläger unter anderem geltend, dass das Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nr. 40 Satz 1 Buchst. c EStG) fehlerhaft nicht angewendet worden sei.

Das FA erließ einen Änderungsbescheid, mit dem die Einkommensteuer in Hö­he von … € festgesetzt wurde. Die Einkünfte des Klägers gemäß § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG reduzierte das FA auf … € (= 60 % von … €). Am 30.01.2015 erging erneut ein Änderungsbescheid mit einer reduzierten Einkommensteuerfestsetzung. Den fiktiven Veräußerungsgewinn berücksich­tigte das FA nunmehr mit … €.

Mit der Einspruchsentscheidung reduzierte das FA die Einkommensteuer aus nicht im Streit stehenden Gründen erneut auf nunmehr … €. Im Übrigen wies das FA den Rechtsbehelf als unbegründet zurück. Der Kläger zahlte die Wegzugsteuer während des Verfahrens "vorläufig" und hat keine Stundung mehr beantragt.

Im Rahmen des Klageverfahrens richtete das Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), über das dieser mit Urteil Wächtler vom 26.02.2019 ‑ C‑581/17 (EU:C:2019:138, Internationales Steu­errecht ‑‑IStR‑‑ 2019, 260; im Folgenden: EuGH-Urteil Wächtler) entschieden hat.

Das FG gab der Klage mit Urteil vom 31.08.2020 ‑ 2 K 835/19 statt (Entschei­dungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2021, 20).

Mit seiner Revision macht das FA geltend, dass die Festsetzung der Wegzug­steuer gemäß § 6 AStG zulässig sei. Über die Frage, ob diese Steuer aus Grün­den übernationalen Rechts gestundet werden müsse, sei nicht im Steuerfest­setzungs‑, sondern im Steuererhebungsverfahren zu entscheiden.

Das FA beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzu­weisen.

Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das dem Revisionsverfahren gemäß § 122 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichts­ordnung (FGO) beigetretene Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat kei­nen Antrag gestellt. In der Sache unterstützt es das Anliegen des FA.

II. Die Revision des FA ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Auch wenn auf der Grundlage des im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens ergangenen EuGH-Urteils Wächtler § 6 AStG geltungserhaltend mit der Maßgabe anzuwen­den ist, dass die Wegzugsteuer im Rahmen des Steuererhebungsverfahrens dauerhaft und zinslos von Amts wegen zu stunden ist, kann sie im (hier ange­griffenen) Einkommensteuerbescheid festgesetzt werden.

1. Nach Maßgabe des nationalen Rechts (§ 6 AStG) ist die Wegzugsteuer im Streitfall durch Einkommensteuerbescheid festzusetzen und nicht zu stunden.

Im Streitfall sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG erfüllt. Die unbeschränkte Steuerpflicht des Klägers, der er mehr als zehn Jahre lang im Inland unterlag, endete durch die mit dem Umzug in die Schweiz einhergehende Aufgabe des inländischen Wohnsitzes. Deshalb ist auf die von ihm gehaltene Beteiligung an der GmbH auch ohne Veräußerung § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG anzuwenden, was zum Ansatz eines fiktiven Veräußerungs­gewinns führt. Eine dauerhafte Stundung der Wegzugsteuer sieht § 6 AStG nicht vor. Die in § 6 Abs. 4 AStG zugestandene zeitlich befristete Teil-Stun­dung hat der Kläger ausdrücklich nicht (mehr) beantragt; vielmehr hat er die festgesetzte Wegzugsteuer entrichtet, ohne sich auf die in § 6 Abs. 4 AStG tat­bestandlich vorausgesetzte "erhebliche Härte" zu berufen. Im Übrigen kommt eine Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG nur bei einem Wegzug in einen Mitglied­staat der Europäischen Union oder einen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum in Betracht und ist daher im Streitfall (Schweiz) nicht einschlägig. Da über die­se Rechtsgrundsätze nach Maßgabe des nationalen Rechts zwischen den Betei­ligten im Übrigen kein Streit besteht, sieht der Senat von näheren Ausführun­gen ab.

2. Die Vorinstanz hat entschieden, dass das FZA der Festsetzung der Wegzug­steuer im angegriffenen Einkommensteuerbescheid entgegenstehe. Auf der Grundlage der im Klageverfahren eingeholten Vorabentscheidung des EuGH (EuGH-Urteil Wächtler) sei der Kläger Selbständiger im Sinne des FZA, womit der persönliche Anwendungsbereich eröffnet sei. Durch die Wegzugs­besteuerung ohne Aufschub der Zahlung der geschuldeten Einkommensteuer werde der Kläger in seinem dort verbrieften Recht auf Gleichbehandlung und damit seinem Niederlassungsrecht (Anh. I Art. 15 i.V.m. Art. 9 FZA) verletzt. Im Streitfall sei nicht erst das Leistungsgebot im angegriffenen Steuerbescheid rechtswidrig, sondern bereits die Steuerfestsetzung. Dies folge aus dem Tenor des EuGH-Urteils Wächtler, der das "Steuersystem" bestehend aus Komponen­ten der Steuerfestsetzung und ‑erhebung betreffe. Das nationale Recht kenne aber kein System, das die Feststellung der Steuerhöhe im Wegzugszeitpunkt bei gleichzeitiger dauerhafter Stundung der festgesetzten Steuer vorsehe. Es sei auch nicht möglich, die vom EuGH formulierten übernationalen Vorgaben im Wege der sogenannten geltungserhaltenden Reduktion in die bestehenden nationalen Vorschriften hineinzulesen.

3. Dieser Auffassung des FG ist nicht uneingeschränkt zu folgen.

a) Rechtsfehlerfrei hat das FG berücksichtigt, dass es im Rahmen der zu tref­fenden Sachentscheidung selbst ‑‑wie im Übrigen darüber hinaus auch die konkret am vorliegenden Rechtsstreit Beteiligten und auch der Bundesfinanz­hof (BFH) als Revisionsgericht (s. insoweit allgemein BFH-Urteil vom 11.02.2003 ‑ VII R 1/01, BFH/NV 2003, 1100)‑‑ an die im Vorabentschei­dungsverfahren ergangene Entscheidung des EuGH gebunden ist. Dabei ist der Tenor des EuGH-Urteils Wächtler im Lichte der ihm zugeordneten Entschei­dungsgründe auszulegen (s. allgemein EuGH-Urteile Bosch/Hauptzollamt Hildesheim vom 16.03.1978 ‑ Rs. 135/77, EU:C:1978:75; Kommission/Italien vom 19.01.1993 ‑ C‑101/91, EU:C:1993:16, Rz 14, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1995, 105; s.a. Ehricke in Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl., Art. 267 AEUV Rz 68; Schönfeld/Erdem, Steuer und Wirt­schaft ‑‑StuW‑‑ 2022, 70; Cordewener in Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018, Festschrift für den Bundesfinanzhof, 2018, S. 895, 906). Für diese Auslegung kommt es nicht darauf an, ob der EuGH in früher ergangenen oder späteren Entscheidun­gen zu vergleichbaren Sachumständen nach denselben Maßgaben erkannt hat.

b) Gemessen daran kann kein Zweifel bestehen, dass der EuGH in sei­nem Urteil Wächtler das deutsche, aus Regelungen für die Steuerfestsetzung und Regelungen für die Steuererhebung bestehende und insbesondere in § 6 Abs. 1, 4 und 5 AStG kodifizierte "System" der Wegzugsbesteuerung bei Weg­zügen in die Schweiz verworfen hat, weil es das FZA-Niederlassungsrecht der betroffenen Steuerpflichtigen verletzt. Mithin ist, wie vom FG richtig erkannt, eine dauerhafte und zinslose Stundung des gesamten Betrags der festgesetz­ten Wegzugsteuer geboten (gleicher Auffassung z.B. Häck, Internationale Steuer-Rundschau ‑‑ISR‑‑ 2020, 17; Häck/Kahlenberg, IStR 2019, 253; Häck in Hummel/Kaminski [Hrsg.], Neue Herausforderungen im Internationalen Steuerrecht, 2022, S. 1, 6 f.; Hörnicke, ISR 2021, 97, 98 f.; Hohenwarter-Mayr, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht 2019, 129; Oellerich, EFG 2021, 25; Schlücke, IStR 2019, 264; Weiss, Ertrag-Steuerberater 2019, 117; s.a. Schönfeld/Erdem, StuW 2022, 70, 77 ff.; FG Köln, Beschluss vom 11.05.2021 ‑ 2 V 1929/20, juris; a.A. BMF-Schreiben vom 13.11.2019, BStBl I 2019, 1212).

aa) Nach dem Tenor des EuGH-Urteils Wächtler sind "Die Bestimmungen des … [FZA] dahin auszulegen, dass sie einem Steuersystem eines Mit­gliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger ei­nes Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesell­schaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt die­ser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Reali­sierung der Wertzuwächse, d.h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesell­schaftsanteile, erfolgt."

bb) Nach den zur Auslegung heranzuziehenden Entscheidungsgründen stellt der EuGH mit Blick auf die der Rechtsprüfung des EuGH unterliegenden natio­nalen Vorschriften zur Wegzugsbesteuerung (§ 6 Abs. 1, 4 und 5 AStG ‑ s. dort Rz 25) den Umstand einer Ungleichbehandlung fest (dort Rz 56 f.). Denn der Kläger, der sein Niederlassungsrecht ausgeübt habe, erleide einen steuer­lichen Nachteil gegenüber Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten hätten. Denn Letztere müssten die Steuer für latente Wertzuwäch­se von Gesellschaftsanteilen erst zahlen, wenn diese Wertzuwächse realisiert würden, das heißt bei der Veräußerung der Gesellschaftsanteile, während ein Staatsangehöriger wie der Kläger die fragliche Steuer für die latenten Wertzu­wächse solcher Gesellschaftsanteile im Zeitpunkt der Verlegung seines Wohn­sitzes in die Schweiz zahlen müsse, ohne einen Zahlungsaufschub bis zur Ver­äußerung der Anteile erhalten zu können. Diese Ungleichbehandlung, die einen Liquiditätsnachteil darstelle, sei geeignet, den Kläger davon abzuhalten, von seinem Niederlassungsrecht gemäß dem FZA tatsächlich Gebrauch zu machen. Und Rz 60 ist zu entnehmen, dass der EuGH im Hinblick auf das von § 6 AStG verfolgte Ziel die Vergleichbarkeit zwischen einer Person, die ihren inlän­dischen Wohnsitz beibehält, und einer Person, die von Deutschland in die Schweiz verzieht, bejaht.

Dass die Ungleichbehandlung durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls ge­rechtfertigt sein könne, wird vom EuGH ausgeschlossen (Rz 67). Dazu stellt der EuGH in Rz 64 zunächst fest, dass die Bestimmung der Höhe der fragli­chen Steuer im Zeitpunkt der Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz zwar eine geeignete Maßnahme sei, um die Erreichung des Ziels in Bezug auf die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Schweiz und Deutschland sicherzustellen. Dieses Ziel sei jedoch keine Rechtfertigung dafür, dass eine Stundung dieser Steuer unmöglich sei. Denn eine solche Stundung bedeute nicht, dass Deutschland zugunsten der Schweiz auf ihre Befugnis zur Besteuerung der Wertzuwächse, die während des Zeitraums der unbeschränk­ten Steuerpflicht des Inhabers der Gesellschaftsanteile in Deutschland ent­standen seien, verzichte. Da aufgrund des bestehenden Informationsaus­tauschs Deutschland Auskünfte über eine etwaige Veräußerung der Gesell­schaftsanteile erhalten könne, sei die fehlende Möglichkeit der Stundung der Wegzugsteuer eine Maßnahme, die über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels der Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen erforderlich sei (Rz 65).

In Rz 66 qualifiziert der EuGH die alsbaldige Einziehung der Wegzugsteuer im Zeitpunkt der Wohnsitzverlegung zwar als geeignete Maßnahme, um eine wirksame Steuererhebung zu gewährleisten. Allerdings sei die Maßnahme un­verhältnismäßig. Denn im Falle des Fehlens von Mechanismen der gegenseiti­gen Unterstützung bei der Beitreibung von Steuerforderungen sei zwar ein Ri­siko der Nichteinziehung der geschuldeten Steuer gegeben. Jedoch könne in die­sem Falle der Aufschub der Einziehung dieser Steuer von der Leistung einer Sicherheit abhängig gemacht werden. Schließlich geht der EuGH in Rz 68 auf eine nationale Steuerregelung ein, bei der es sich offenkundig um § 6 Abs. 4 AStG handelt. Die dort vorgesehene Möglichkeit der Zahlung der Wegzugsteu­er in Teilbeträgen stehe der in Rz 67 getroffenen Feststellung, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuersystem eine ungerechtfertigte Be­schränkung des vom FZA vorgesehenen Niederlassungsrechts darstellt, nicht entgegen. Denn die Maßnahme der Ratenzahlung sei jedenfalls nicht geeignet, den Liquiditätsnachteil aufzuheben, der mit der Verpflichtung zur Zahlung ei­nes Teils der Wegzugsteuer im Wegzugszeitpunkt einhergehe. Außerdem blei­be diese Maßnahme kostspieliger als eine Maßnahme, die die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung der Anteile vorsähe.

cc) Der Senat erachtet diese Aussagen des EuGH im Urteil Wächtler als klar und eindeutig. Auch wenn der EuGH in anderen Entscheidungen, die das bei­getretene BMF zur Begründung seiner abweichenden Rechtsauffassung heran­zieht, die aber zu anderen Lebenssachverhalten und anderen nationalrechtli­chen Bestimmungen ergangen sind, abweichende fallspezifische Rechtsausfüh­rungen gemacht haben sollte, stellt das EuGH-Urteil Wächtler die den Senat "bindende Momentaufnahme" (so allgemein Cordewener in Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018, Fest­schrift für den Bundesfinanzhof, 2018, S. 895, 910) hinsichtlich der Anforde­rungen an die Rechtmäßigkeit der Wegzugsbesteuerung natürlicher Personen im Anwendungsbereich des FZA dar. Es besteht wegen der Bindungswirkung (siehe zu a) auch weder Grund noch Anlass für eine (für diesen Rechtsstreit: erneute) Vorlage einer Rechtsfrage an den EuGH.

dd) Damit ist, um dem Kläger die Ausübung seines Rechts, sich in der Schweiz niederzulassen, zu ermöglichen, eine bis zum Veräußerungszeitpunkt andau­ernde Stundung der ‑‑im Wegzugszeitpunkt zulässigerweise festzusetzenden‑‑ gesamten Wegzugsteuer geboten. Diese Stundung darf gegebenenfalls von ei­ner Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden (EuGH-Urteil Wächtler, Rz 66; s.a. Häck, ISR 2020, 17), nicht aber mit einer Verzinsung einhergehen, weil dies zu einem Liquiditätsnachteil gegenüber einem im Inland verbleibenden Steuerpflichtigen führt, der bis zu einer Veräußerung der Anteile keinen Zah­lungspflichten unterliegt (z.B. Oellerich, EFG 2021, 25; s.a. Häck/Kahlenberg, IStR 2019, 253; Schlücke, IStR 2019, 264; a.A. BMF-Schreiben vom 13.11.2019, BStBl I 2019, 1212). Auch insoweit erachtet der Senat die Aussa­gen in Rz 57 und 68 des EuGH-Urteils Wächtler für eindeutig und nachvollzieh­bar. In Rz 68 wird zwar speziell das ‑‑nationalrechtlich allerdings mit einer Verzinsung einhergehende‑‑ Teilbetragszahlungskonzept des § 6 Abs. 4 AStG in den Blick genommen. Allerdings geht mit einer gegebenenfalls viele Jahre andauernden Zinszahlungsverpflichtung ebenfalls ein ganz erheblicher Liquidi­tätsnachteil einher. Eine verzinsliche Stundung ist im Sinne der Ausführungen unter Rz 68 des EuGH-Urteils Wächtler zweifellos auch deutlich kostspieliger als eine Maßnahme, die schlicht die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung der Gesellschaftsanteile vorsieht.

c) Nicht anschließen kann sich der Senat allerdings der Meinung des FG, dass das unter Beachtung der FZA-Maßgaben Gebotene (dauerhafte, unverzinsliche Stundung) nicht in die nationalen Rechtsvorschriften hineingelesen werden könne, was damit die Rechtswidrigkeit der Festsetzung der Wegzugsteuer zur Folge habe. Vielmehr führt auch die Verwendung des Begriffs "Steuersystem" im Te­nor des EuGH-Urteils Wächtler nicht dazu, dass die Festsetzung der Wegzug­steuer ‑‑wie das FG meint‑‑ unzulässig ist.

aa) Das FG hat die Reichweite der in ständiger Rechtsprechung bei Unions­rechtsverstößen zugelassenen sogenannten geltungserhaltenden Reduktion des nationalen Rechts zu eng bestimmt. Denn es geht insoweit um eine Geset­zesanwendung, die den Anwendungsvorrang des unmittelbar geltenden Uni­onsrechts unter größtmöglicher Wahrung des national-rechtlichen Gesetzesbe­fehls sicherstellt (vgl. auch Cordewener in Drüen/Hey/Mellinghoff [Hrsg.], 100 Jahre Steuerrechtsprechung in Deutschland 1918-2018, Festschrift für den Bundesfinanzhof, 2018, S. 895, 911 ff.). Die Unionsrechtswidrigkeit führt danach gerade nicht zu einer vollständigen Unanwendbarkeit oder Nichtigkeit der nationalen Vorschrift. Vielmehr ist dem Anwendungsvorrang des Primär­rechts vor nationalem Recht durch das "Hineinlesen" der vom EuGH verbind­lich formulierten unionsrechtlichen Erfordernisse in die betroffene Norm Rech­nung zu tragen (z.B. Senatsurteile vom 03.02.2010 ‑ I R 21/06, BFHE 228, 259, BStBl II 2010, 692; vom 15.01.2015 ‑ I R 69/12, BFHE 249, 99, m.w.N.). Infolgedessen kann es geboten sein, ein "europarechtswidriges Tatbestands­merkmal" nicht zu beachten (BFH-Urteile vom 17.07.2008 ‑ X R 62/04, BFHE 222, 428, BStBl II 2008, 976; vom 21.10.2008 ‑ X R 15/08, BFH/NV 2009, 559) oder einen im nationalen Gesetz nicht vorgesehenen Gegenbeweis zuzu­lassen (z.B. Senatsurteile vom 21.10.2009 ‑ I R 114/08, BFHE 227, 64, BStBl II 2010, 774; vom 03.02.2010 ‑ I R 21/06, BFHE 228, 259, BStBl II 2010, 692), im Übrigen aber die Vorschrift in ihrem Bestand zu erhalten.

bb) Nach diesen allgemeinen Maßstäben, die im Schrifttum Zustimmung erfah­ren haben (z.B. Hey, StuW 2010, 301; Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf [Hrsg.], Steuerrecht im Rechtsstaat, Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, S. 279, 293 ff.) und auch im Bereich der Anwendung der FZA-Maßgaben Anwendung finden, um eine materiell-rechtliche Besserstellung der dortigen Regelungsadressaten im Vergleich zu Unionsrechtsbürgern bei Anwendung der Grundfreiheiten des Ver­trags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu verhindern, ist es zu­lässig, im Zeitpunkt des Wegzugs in die Schweiz die Wegzugsteuer gemäß § 6 Abs. 1 AStG festzusetzen (a.A. Hörnicke, ISR 2021, 97, 101 und 103; wohl auch Schönfeld/Erdem, StuW 2022, 70, 93). Damit wird auch ermöglicht, auf den Zeitpunkt des Wegzugs festzuhalten, auf welchen Anteil des Steuersub­strats das Besteuerungsrecht des Wegzugsstaates entfällt (so FG Köln, Be­schluss vom 11.05.2021 ‑ 2 V 1929/20, juris, Rz 33). Zugleich ist aber den vom EuGH verbindlich formulierten Vorgaben dadurch Rechnung zu tragen, dass die im nationalen Gesetz nicht vorgesehene zinslose und bis zur Anteils­veräußerung andauernde Stundung von Amts wegen zu gewähren ist, um dem Steuerpflichtigen die Ausübung seines Rechts, sich in der Schweiz nieder­zulassen, zu ermöglichen.

4. Die hiernach vom FZA geforderte Stundung wird im Streitfall nicht durch die Zahlung der Wegzugsteuer durch den Kläger ausgeschlossen.

Nach der Rechtsprechung des BFH geht eine nach Entrichtung der Steuer aus­gesprochene Stundung nicht "ins Leere". Eine Stundung kann vielmehr auch für bereits vergangene Zeiträume und auch für bereits gezahlte Steuern ge­währt werden (BFH-Urteile vom 22.04.1988 ‑ III R 269/84, BFH/NV 1989, 428; vom 08.07.2004 ‑ VII R 55/03, BFHE 206, 309, BStBl II 2005, 7).

Im Übrigen ist über die mit dem Stundungsanspruch verbundenen Fragen nicht im vorliegenden ‑‑allein die Steuerfestsetzung betreffenden‑‑ Verfahren, sondern gesondert im Rahmen des Erhebungsverfahrens zu entscheiden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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